Der rote Vorhang

by Annina Malaika

Schon am Morgen dieses Tages begann Elain an ihrem Verstand zu zweifeln.

Nicht nur hatte sie von Wesen geträumt, zu abenteuerlich, als dass sie ihrer Fantasie hätten entspringen können. Jene Geschöpfe verfolgten sie nun auch noch in der Realität. So könnte Elain schwören, dass sie so schlagartig aufgewacht war, weil eines dieser Wesen auf ihrem Nachttisch gesessen hatte und sie aus großen, bernsteinfarbenen Augen angestarrt hatte.

Würde sie die Erscheinung beschreiben wollen, so würde sie das Tier als Katze bezeichnen, die jedoch die Flügel eines Vogels und die Augen eines Löwen hatte. Doch eigentlich spielte das keine Rolle, da die Katze in Moment eines Augenblinzelns auch schon wieder verschwunden war und eindeutig mit den verschlafenen Augen und dem müden Verstandes Elains zu erklären war.

Es hätte noch ein normaler Tag werden können, hätte Elain in den folgenden Stunden nicht auch noch weitere sonderbare Geschöpfe gesehen. So meinte sie gar, einen Wyvern am Himmel zu erkennen, der nach einem zweiten prüfenden Blick Elaines jedoch nicht mehr zu sehen war.

Mit einem verlegenen Lächeln, in der Hoffnung, dass kein andere in ihrem Wohnheim ihren panischen Blick gen Himmel gefolgt war, zog Elaine sich in den einsamen Garten zurück. (Da sowieso schon viel über Elaine, mit ihren weißen Haaren und Onyx-dunklen Augen, getuschelt wurde, wollte sie keinem die Genugtuung geben, sie als verrückt bezeichnen zu können.)

Der Tag zog sich, während ihre Gedanken stets um die Geschehnisse des Tages schwirrten. Womöglich hatten die anderen doch Recht, sie als Hexenkind zu bezeichnen. Vielleicht lag es nicht nur an ihrem Äußerlichen, wenn sie nun schon selbst überzeugt war, wahnsinnig zu werden.

Nachdem Elain vermehrt das Gefühl beschlich, beobachtet zu werden, machte sie sich in der Dämmerung auf den Weg, zurück in ihr Zimmer. Die Erscheinungen des Tages vergessend, schlief Elain tief und traumlos bis zur Morgendämmerung.

Sie hatte die Vorfälle so weit verdrängt, dass sie am nächsten Morgen auf dem Weg zur Schule gar nicht auf die Idee kam, jemandem von ihren Erlebnissen zu erzählen. Es graute ihr, das dunkle und graue Klassenzimmer zu betreten, wo es den Lehrern scheinbar Freude bereitete, jegliche Fantasie und Kreativität zu unterdrücken.

Umso einladender wirkte der rote Vorhang mit dem grauenvollen Blumenmuster, der träge mit dem Wind zu tanzen schien. Elain schenkte ihm gerne ihre volle Aufmerksamkeit, um nach Formen und Symbolen in den Stofffalten Ausschau zu halten. Gewissermaßen war das ihre liebste Beschäftigung, um sich von dem tristen Unterricht abzulenken. So ergab es sich, dass sie heute gar ein riesiges Wesen erkennen wollte. Eine so deutliche Form hatte der Vorhang ihr noch nie gewährt.

Doch mit einem prüfenden Blick, stellte Elain fest, dass die Silhouette keine Laune des Windes war. Vielmehr stand dort ein Tier, und starrte durch das Fenster hinein. Und es war weder ein Hirsch, noch ein Pferd. Vielmehr war es das prächtigste Wesen, dass Elain je gesehen hatte, mit dem Oberkörper eines Menschen und dem Unterteil eines Pferdes. Elain sah sich um, doch keiner schien den Zentaur bemerkt zu haben. Sie blinzelte, um die Erscheinung aus ihrem Kopf zu treiben, doch der Zentaur blieb. Elain könnte schwören, dass der Zentaur zurückblinzelte.

Und in jenem Moment des Blickkontakts, verbleichte das graue Klassenzimmer, der Vorhang verschwand und Elain wurde von einem herrlichen Gefühl erfasst, als sie sich in den Augen des Geschöpfes verlor. Sie sah Landschaften, majestätischer als alles was sie sich hätte erträumen können und  Wesen, exotischer als jedes Tier, dass sie je gesehen hatte. Der Himmel erschien ihr so nah, als sie sich in diesem überwältigenden Reich wiederfand. Elain befand sich im Paradies, da war sie sich sicher.

Doch mit einem ohrenbetäubenden Krächzen, vernahm sie ihren eigenen Namen, der das Paradies zerplatzen ließ. Und bevor Elain wusste, was passiert war, fand sie sich wieder in dem Klassenzimmer. Der Zentaur war weg, als ob er nie da gewesen war, und mit ihm auch das Paradies. Das Einzige was blieb, war das Krächzen der Lehrerin, die sich vor Elain aufgebaut hatte.

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